Titel
L'Europe. Encyclopédie historique


Herausgeber
Charle, Christophe; Roche, Daniel
Erschienen
Arles 2018: Actes Sud
Anzahl Seiten
2.397 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Synthesen zur Geschichte Europas kamen in den 1990er-Jahren und den 2000er-Jahren in Deutschland mehrfach, zuletzt bei C.H.Beck, heraus. Jetzt geht die Initiative auf die andere Seite des Rheins über. Allein 2018 wurden zwei umfangreiche französische Synthesen veröffentlicht: „Europa“, herausgegeben von Etienne Francois und Thomas Serrier, und „L’Europe. Encyclopédie historique“, herausgegeben von den international renommierten Pariser Historikern Christophe Charle (Sorbonne, Paris I), und Daniel Roche (Collège de France). Anders als in Deutschland haben sich etablierte Verlage nicht an diese großen Synthesen gewagt. Schon die deutschen Synthesen wurden nicht mehr von einem einzigen Autor verfasst. Jeder Autor behandelte nur eine Epoche. An den französischen Publikationen schrieben noch viel mehr Autoren, an „Europa“ rund 150 Autoren, an der Encyclopédie historique rund 430 überwiegend französische Autoren. Entstanden ist eine mosaikartige Geschichte des Kontinents, in der jeder Autor als individueller Historiker eines Mosaikstücks auftritt und trotzdem aus der Distanz ein Gesamtbild entsteht.

Die Intentionen dieser Encyclopédie historique werden in einer klar geschriebenen Einleitung vorgestellt. Die Herausgeber wollen die europäische Geschichte in ihrer ganzen Breite erfassen, die wichtigsten Ereignisse und Personen, die übergreifenden Institutionen, die großen Kunstwerke und Erfindungen, die großen religiösen und politischen Strömungen, die verbreiteten Lebensweisen, die entscheidenden wirtschaftlichen Transformationen und Moden, die Schlüsselstädte und -länder, die großen sozialen und kulturellen Bewegungen, auch die Konflikte und Austauschprozesse, die alle zusammengenommen die civilisation europénne, so die Wortwahl der Herausgeber, ausmachen. Diese Synthese soll die Geschichte Europas entlang von fünf Achsen ordnen: Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, zu der auch Technologie und soziale Hierarchien geschlagen werden, Kunst und Politik. Als intellektuelle Väter dieser Encyclopédie historique sehen die Herausgeber Historiker der 1920er-Jahre, Lucien Febvre, Marc Bloch, Marcel Maus, auch Norbert Elias, die sich mit der zivilisatorischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs auseinandersetzten und Frieden suchten, daneben jüngere Historiker, die sich mit dem europäischen Kolonialismus und der Dekolonisierung befassten. Die Herausgeber hoffen mit dieser Encyclopédie historique dazu beizutragen, dass eine der Aufklärung verpflichtete civilisation européenne, trotz der dunklen Seiten ihrer Vergangenheit und ihrer Spaltungen, ein dauerhaftes und zu verbesserndes Zukunftsprojekt bleibt.

Die Encyclopédie historique, mit über 2.300 Seiten der wohl voluminöseste historische Band zur Geschichte Europas, ist kein Lexikon, sondern eine chronologische Gesamtdarstellung. Sie beginnt im ersten Teil mit einem weiten Blick über die anderthalb Jahrtausende europäischer Geschichte zu sechs großen Themen: die Herkunft Europas mit Artikeln etwa über das Römische Reich wie die Neandertaler, Jerusalem, Sparta, aber auch die Kelten und die Germanen; die Grenzen und Peripherien Europas mit Artikeln etwa über den Ural, Sizilien und den Maghreb, aber auch den Rhein, die Donau, die Alpen; die Hauptstädte Europas, unter denen für Deutschland Weimar und München ausgewählt, Berlin ausgelassen wurde; die Symbole mit Artikeln etwa über Adler, Bären ebenso wie über Sakramente und das Paradies, die Villa, das Schloss und natürlich den Mythos Europa; die gemeinsamen Kulturen mit Artikeln etwa über das Alphabet, über die Bibel, über Bibliotheken, über Schulen, auch über Gefühle; die materielle Kultur mit Artikeln etwa über Luxus, über Umwelt und Energie, über Bett und Brot, über Wein und Abwässer; schließlich über Institutionen und soziale Beziehungen mit Beiträgen etwa über Steuern und Rechtsprechung, über Bürgerrechte und Rassismus, über Bürgertum, Adel und Bauern.

Danach folgen die drei großen Epochen im größeren Teil des Werkes, geordnet nach den fünf genannten Achsen: zuerst das mittelalterliche Europa als Geburt Europas mit Kapiteln über Politik, Religion, Wissenschaft und Kunst sowie materielle Kultur; dann die frühe Neuzeit, überschrieben mit Kriege, Reformationen und Aufklärung, mit Kapiteln über Staaten, über Religions- und Ideenkonflikte, über wissenschaftliche und künstlerische Innovationen, auch über die neuen Welten mit ihren Städten und materiellen Kulturen; schließlich die jüngere Geschichte seit dem späten 18. Jahrhundert, als die Zeit der Diskordanz bezeichnet, mit zwei Kapiteln über Politik, eines über Imperien und Kriege, eines über Konflikte zwischen politischen Strömungen und Bewegungen, weitere Kapitel über kulturelle Konflikte, über wissenschaftlichen Fortschritt und über Innovationen der materiellen Kultur. Der Leser wird nicht von einem Autor durch die Epochen geführt, sondern geht wie in der Bildergalerie eines Museums von einem Experten zum anderen.

Werden die Intentionen in diesem Kraftakt an Herausgeberleistung durchgehalten? Natürlich muss der Leser sich in dieser Synthese von hunderten Artikeln ohne die Führung eines Autors erst einmal zurechtfinden. Es ist auch unvermeidlich, dass man nicht zu allen denkbaren Themen Artikel zu lesen bekommt (auch in der Synthese eines einzigen Autors nicht bekäme) und die Qualität der Artikel schwankt. Drei Probleme fallen auf. Von den fünf in der Einleitung angekündigten Achsen werden vier überzeugend durchgehalten, aber die Achse Wirtschaft fällt doch zurück. Nur recht wenige Artikel, nicht mehr als ein Dutzend, behandeln in den drei Epochen jeweils wirtschaftliche Themen. Zudem wurden Artikel über Persönlichkeiten sehr sparsam eingeplant. Nur über ungefähr 30 große Männer, meist Könige, Denker oder Künstler, wird referiert. Keine Frauen, nicht einmal Jeanne d’Arc, erhielten eigene Artikel. Die Autoren teilten offensichtlich diese Zurückhaltung nicht, wie ein umfangreiches, 60 Seiten langes Personenregister belegt. Ein letzter, freilich schwer vermeidbarer Nachteil: Das Werk wird aller Wahrscheinlichkeit wegen des Umfangs nicht übersetzt werden und daher nur Französischkennern zugänglich sein. Übersetzt werden dürfte im besten Fall eine drastisch reduzierte Kurzversion, wenn man nicht nach und nach auf einer Website englische, vielleicht auch spanische oder deutsche Versionen der Artikel herausbringt.

Die Encyclopédie historique besitzt drei klare Vorzüge: Sie experimentiert mit einer neuen Form der Synthese der europäischen Geschichte, wie wir sie auch von Museen und von Websites kennen. Sie bietet eine gut überlegte, anregende und herausfordernde Auswahl von Themen, zu denen jeweils Experten für kurze Artikel ausgesucht wurden. Es ist den Herausgebern gelungen, fast alle diese Experten dazu zu bringen, ihre Forschungen in prägnante Thesen zu Europa zu gießen, ein mühevolles Unterfangen. Auf diese Weise verfasst hier ein gewichtiger Teil der Historikerzunft Frankreichs seine Geschichte Europas in einer Zeit der Krise der europäischen Integration und des Bedürfnisses nach Selbstvergewisserung. Diese Encyclopédie historique behandelt alle Teile Europas. Sie ist zwar unverkennbar aus dem Blick der Mitte Europas geschrieben. Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien werden am häufigsten erwähnt. Aber in einer erheblichen Zahl von Artikeln kommen auch Experten anderer Teile Europas, Skandinaviens und Ostmitteleuropas ebenso wie Spaniens und Portugals, Russlands ebenso wie des Balkans zu Wort.

Diese Encyclopédie historique ist keine Eloge auf Europa, aber auch kein Abgesang. Nicht nur in den Überschriften zu den Epochen, sondern auch in der Auswahl von Artikeln werden durchdacht Leistungen und Katastrophen Europas einander gegenübergestellt, Aufklärung und Industrialisierung ebenso wie Dreißigjähriger Krieg, die Weltkriege, Holocaust und Genozide, Nation und Xenophobie, Demokratie und Tortur, weniger Reichtum und Armut. Zu einigen Themen wie Aufklärung, Erster Weltkrieg und Wohlfahrtsstaat werden sogar Artikel von unterschiedlichen Autoren abgedruckt.

Besondere französische Zugänge werden nicht kultiviert. Man muss sie suchen, mag sie in der Verwendung mancher Begriffe wie culture matérielle und civilisation, in dem Verzicht auf eine Systematik der Themen und auf Artikel über Theorien und Methoden, in der Liste der intellektuellen Ahnen dieser Encyclopédie historique finden. Aber französische Zugänge drängen sich nicht auf. Unter den ausgewählten Artikeln über große Männer behandelt nur eine Minderheit Franzosen, nicht mehr als Italiener und Deutsche. Insgesamt ist in einer enormen Anstrengung eine sehr lesenswerte und lesbare, höchst anregende, informative, wirklich europäische Synthese unseres Kontinents entstanden.